Innere Bestimmung und Berufung

Lebenskunst, Psychologie.

Die Frage, ob alles Geschehen vorherbestimmt ist oder ob der Mensch den Verlauf der in seinem Einflussbereich liegenden Ereignisse mit seinem freien Willen bestimmt, lässt sich theoretisch-analytisch nicht entscheiden. Vieles deutet darauf hin, dass beide Erklärungsmöglichkeiten zutreffen und nur zwei Seiten derselben Münze beleuchten. Es ist daher am sinnvollsten – insbesondere wenn die letzte Vermutung zutrifft –, eine pragmatische Antwort zu akzeptieren und zum Lebensleitfaden zu machen. Diese lautet: Mein persönlicher Wille zur Formung meines persönlichen Schicksals ist identisch oder zumindest in grundsätzlicher Harmonie mit dem “kosmischen” Plan für mein persönliches Schicksal.

Eine solche Sicht schließt selbstverständlich ein materialistisches Weltbild herkömmlicher Art aus. Sie geht aus von einem übergeordneten “Sinn” des Gesamtgeschehens, einem Geistprinzip, das allem Geschehen zugrunde liegt. Wichtige Indizien für diesen “Sinn” sind die merkwürdigen, statistisch völlig unwahrscheinlichen “Zufälle” des Lebens. Sie lösen Staunen aus, und das Staunen ist laut Platon und Aristoteles der Ursprung aller Philosophie: “Denn Staunen veranlasste zuerst wie noch heute die Menschen zum Philosophieren… Wer aber fragt und staunt, hat das Gefühl der Unwissenheit… Um also der Unwissenheit zu entkommen, begannen sie zu philosophieren…” (Aristoteles)

Ich habe als Individuum Anteil an diesem Geistprinzip, das immer wieder zum Staunen anregt. Durch Erkennen des Geistprinzips in mir bekomme ich eine Ahnung, ein Gefühl für den Sinn des Ganzen. Es kann sich letztendlich nicht um eine intellektuell in rationaler Sprache ausdrückbare Wahrheit handeln, denn sonst wäre sie gewiss schon lange von den großen Philosophen der Menschheit gefunden, formuliert und nie wieder bestritten worden.

Mein pragmatischer Weg ist also das Erfühlen meines individuellen Lebenssinns, meiner Bestimmung. Diese fließt – darauf darf ich vertrauen, wenn ich kein Materialist bin – in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem Gesamtstrom des Lebens. Ein Schwimmenwollen gegen den großen Sinnstrom erhielte keine Nahrung und Kraft und wäre zum Scheitern verurteilt.

Meine Bestimmung oder Berufung ist der Platz, den ich im Gesamtgefüge einnehme und auf dem ich zum Ganzen beitrage. Es ist die soziale Rolle, die ich für meine Mitmenschen spiele, egal wie groß dieser Menschenkreis ist. Im Idealfall ist die Berufung identisch mit dem Beruf. Man strebt bewusst oder unbewusst zur Verwirklichung aller Fähigkeiten und Talente in einem Berufungsberuf.

Da die Berufung die Nahtstelle der Seele mit der Gesellschaft ist, bekommt die Seele auch von der Gesellschaft ständig Hinweise, welche Berufung für sie innerhalb der Gesellschaftsstruktur optimal geeignet ist.

Solche Hinweise sind “Rufe”, “Berufungen”, “vocationes”. Noch heute hat das aus dem Latein stammende englische Wort vocation folgende Bedeutungen: 1. göttliche oder innere Berufung   2. Begabung, Eignung  3. Beruf, Beschäftigung.

Carol Adrienne gibt folgende Hinweise über die Lebensaufgabe, die weitgehend mit der Berufung gleichzusetzen ist:1

1.    Unser aller Lebensaufgabe besteht darin, das Leben, das uns gegeben wurde, mitzugestalten – unsere Lebensenergie in Richtungen zu lenken, die für uns sinnvoll sind.

2.    Jeder von uns wird mit einer inneren Führung geboren, die uns hin zu Menschen, Orten und Ereignissen bringt, welche es uns ermöglichen, unsere Aufgabe synchronistisch zu erfüllen.

3.    Unsere Lebensaufgabe entfaltet sich ständig, auch wenn wir dies aufgrund unserer Fixierung auf ein bestimmtes Ziel oder einen festgelegten Zeitpunkt nicht erkennen.

4.    Unsere Lebensaufgabe bezieht sich in der Regel darauf, zu lernen, tiefer, umfassender, beständiger und bedingungsloser zu lieben.

5.    Unsere Lebensaufgabe kann darin liegen, besondere Werte zu entwickeln, wie z.B. Glauben, Vertrauen, Mut oder die Bereitschaft zur Vergebung.

6.    Unsere Lebensaufgabe mag es sein, die geistige Entwicklung eines anderen Menschen zu unterstützen.

7.    Unsere Lebensaufgabe kann in der Zusammenarbeit mit einer anderen Seele liegen, mit der wir unerledigte Dinge zu klären haben.

8.    Unserer Lebensaufgabe begegnen wir bei jenen Aktivitäten, bei denen wir das Gefühl für die Zeit verlieren.

9.    Wir haben unsere Lebensaufgabe gefunden, wenn uns etwas so sehr bewegt, dass wir unser Herz dem öffnen, dem es zuvor verschlossen war.

10.    Wir finden unsere Lebensaufgabe, indem wir unseren täglichen Verrichtungen nachgehen. Wir können sie auch in Momenten der Transzendenz finden, wie z.B. bei einem Augenblick des geistigen Erwachens im Wald, bei einem Nahtoderlebnis oder nach einer vollbrachten Leistung, ob groß oder gering, die uns mit etwas verbindet, das größer ist als wir selbst.

11.    Unsere Lebensaufgabe ist es, so voll und ganz, so gegenwärtig und authentisch zu leben, wie es uns möglich ist.

In der Astrologie, die ich für eine vollständige symbolische Beschreibung des menschlichen Daseins halte, gibt es 4 Ebenen, die gelebt werden wollen und müssen (symbolisiert durch die 4 Quadranten des Horoskops): 1. Körper (Materie)  2. Seele  3. Geist  4. Sinn.

Individueller Lebenssinn, Berufung, Lebensaufgabe sind unterschiedliche Worte, die auf einen zentralen Begriff hinweisen. Der “Sinn” ist eine erfüllende und beglückende Vollständigkeitserfahrung des Einzelnen als Teil des Ganzen. Er ist daher nur unter Einbeziehung der Außenperspektive – aus der Sicht der Gesellschaft, des größeren mich umgebenden Menschenkreises – völlig erfassbar. Ich muss zur Findung meiner Berufung – zusätzlich zu meiner Blickrichtung nach innen – mich mit den Augen meines weiteren mich umgebenden Menschenkreises betrachten: Welche Funktion übe ich für sie aus, welche Rolle spiele ich für sie, was bewirke ich bei ihnen? In welcher Rolle möchten sie mich gerne sehen oder welche übergeordnete Aufgabe sehen sie als für mich unbedingt passend an?  In der letztgenannten Hinsicht ist es sehr hilfreich, auf Signale und Feedbacks von außen zu achten, besonders dann, wenn es sich um Personen handelt, die einem emotional nicht sehr nahestehen, also z.B. keine Verwandte, Lebenspartner oder sehr enge Freunde. Diese projizieren häufig eigene Wünsche in mich hinein und können nicht immer ein losgelöstes Urteil über meine “eigentliche” Berufung abgeben. Die Mischung von Signalen aus beiden umgebenden Personenkreisen – eng und entfernt – sollte jedoch ein ausgewogenes “Ahnungsbild” ergeben.

Berufung ist nicht identisch mit Fähigkeiten und Talenten. Vielmehr ist die Berufung der soziale Platz, an dem meine besten Fähigkeiten zum Nutzen der Gesellschaft – ob groß oder klein – im bestmöglichen Maße zum Ausdruck kommen. Berufseignungstests messen nur vorhandene Fähigkeiten, Talente und Wünsche und versuchen diese einem existierenden Beruf zuzuordnen. Sie ermitteln nie die wahre Berufung, können jedoch ein wichtiger Schritt dahin sein. Es ist deshalb notwendig, sich über die eigenen Fähigkeiten, Qualifikationen, Talente und Wünsche ehrlich klar zu werden, z.B. mithilfe von Tests, Vergangenheitsbetrachtung, Nach-innen-Horchen, Befragung von Freunden usw. Ebenso wichtig ist es, die bisherigen Negativ-Erfahrungen Revue passieren zu lassen, um zu wissen, was man zur Zeit definitiv nicht will oder kann. Jedoch benötige ich Flexibilität in Bezug auf meine Zukunft, um “von oben” oder “von innen” gewünschte Änderungen an meinem Lebensprogramm vorzunehmen. An jedem schwerwiegenden Punkt des Scheiterns oder der Frustration auf meinem Beruf(ung)sweg sollte ich mich erneut einer grundlegenden Überprüfung unterziehen.

Bei einer Anlagen-Bestandsaufnahme ist es auch hilfreich, die negativen Eigenschaften zu betrachten, d.h. solche Qualitäten, die von anderen Menschen kritisiert, bemitleidet oder bekämpft werden. “Schlechte” Qualitäten sind in Wirklichkeit verborgene Stärken, die ein disharmonisches Übergewicht bekommen oder eine falsche Zielrichtung eingeschlagen haben.

Es wird allgemein anerkannt, dass ein Mensch zum vollen Glücklichsein seine individuelle Erfüllung auf den 3 Ebenen Körper (Materie), Seele und Geist finden muss. In der ganzheitlichen Deutung der Astrologie lebt jedoch kein Mensch ein erfülltes Leben, wenn er nicht auch seinen individuellen Lebenssinn findet: traditioneller Beruf, gesellschaftliche Berufung und kosmischer Bezug (Häuser 10 bis 12 = 4. Ho­ro­skop-Qua­drant).

In der Reinkarnationstherapie berichtet ein Teil der Klienten davon, dass sie sich in einem Zwischenstadium bewusst für ihr jetziges Leben entschieden haben, in ungefährer und in einigen Details genauerer Kenntnis davon, was sie als Schicksal erwarten würde. Auch eine Reihe esoterischer Autoren geht von einer bewussten Entscheidung für ein bestimmtes Leben aus. In ähnliche Richtung geht auch der Jung’sche Psychoanalytiker James Hillman. Von einer totalen Determination wird jedoch nirgendwo gesprochen, d.h. Lebensziele können verfehlt oder nur teilweise erreicht werden. Bei negativen Schicksalsvoraussichten kann dies eine positive Leistung und Weiterentwicklung der betreffenden Seele bedeuten. In einem Fall sah ein Klient, dass es ihm bestimmt war, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, seinen Vater in einer lebensgefährlichen Situation sterben zu lassen. In einer späteren Lebenssituation kam ein Rache-Impuls mit einem derartigen Dilemma auf, doch konnte der Betreffende ihn besiegen und sich schließlich mit seinem Vater arrangieren.2 Solche Berichte lassen darauf schließen, dass wir nur den ungefähr vorausbestimmten Schicksalsrahmen wählen, in wesentlichen Details jedoch frei entscheiden können.

Für Erfolg im Beruf und das Erfüllen der gesellschaftlichen Berufung ist mitentscheidend, dass man sein spezielles Naturell erkennt, anerkennt und in konzentrierter und beständiger Weise in die Gesellschaft einfließen lässt. Sehr hilfreich ist es, sich über ein Hauptlebensziel und Lebensetappenziele klar zu werden und diese schriftlich niederzulegen. Bei Hauptzielen sollte man sich im Vorhinein keine Einschränkungen und Abwertungen in den Weg legen, sondern ruhig frei phantasieren, z.B.: “Wenn ich unermesslich viel Geld zur Verfügung hätte, würde ich folgender Hauptaktivität nachgehen: …”

Literatur:

Adrienne, Carol: “Erkenntnis und Zufall. Den Sinn des Lebens finden”, 1999, München, Wilhelm Heyne Verlag

Hillman, James: “Charakter und Bestimmung. Eine Entdeckungsreise zum individuellen Sinn des Lebens”, 21998, München, Wilhelm Goldmann Verlag


  1. Carol Adrienne: “Erkenntnis und Zufall”, S. 78f. []
  2. Joel  L. Whitton & Joe Fisher: “Life Between Life. Scientific Explorations into the Void Separating One Incarnation from the Next”, 1986, Garden City NY, Doubleday; pp.44f. []
Lebenskunst, Psychologie.