Die Unschärfe des Lebens – Weisheit der Postmoderne

Grenzgebiete, Natur+Wissenschaft, Philosophie.

Physik und Esoterik


Seit etwa 1900 ist das Weltbild der Physik durch einen tiefgreifenden Wandel gegangen, und eine Reihe von modernen Naturwissenschaftlern hat offensichtlich die gewohnheitsmäßige Distanz zum Religiösen aufgegeben. Einige Bahnbrecher der neuen physikalischen Weltsicht haben sogar mit Hingabe um ein philosophisches, ja spirituelles Verständnis der Welt gerungen.1 Diese Bemühungen von anerkannten Vordenkern der Naturwissenschaft haben in der Esoterik eine nicht zu unterschätzende Resonanz gefunden.

Einige moderne Erkenntnisse der Physik scheinen die eher monistische, d.h. auf eine All-Einheit ausgerichtete Esoterik zu unterstützen:

  • Heisenbergsches Unbestimmtheitsprinzip (Unschärferelation): Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen. Ein völlig »objektiver« Beobachtungsprozess ist eine Illusion.
  • Bellsches The­o­rem: Im Universum ist alles mit allem verbunden und wirkt aufeinander ein. Die Verbindung aller Teile ist offenbar immer und überall vorhanden, auch ohne Signalübertragungen, und ohne zu überwindende Zeiten und Räume.
  • Teilchen-Welle-Kom­ple­men­tarität: Das strikte Entweder-Oder-Prinzip und damit die rational-logische Erklärbarkeit der Welt sind an grundsätzliche Grenzen gestoßen.

Prinzipielle Undeutlichkeit in der Parapsychologie

Ein weiteres Gebiet der Wissenschaft, deren Erkenntnisse viele Esoteriker mit Aufmerksamkeit verfolgen, ist die Parapsychologie. Die Theorien dieser Wissenschaft liegen heute nicht weit entfernt von derjenigen der Quantenphysik,2 und für spirituell eingestellte Menschen sind die wissenschaftlichen Abhandlungen dieses Forschungsgebietes meist sehr spröde und unverdauliche Lektüre. Als eine gesicherte Erkenntnis nach etlichen Jahrzehnten der Forschung und des Experimentierens in diesem Grenzbereich zwischen Psychologie und Physik bzw. Geist und Materie gilt: Paraphänomene wie Spuk und Psychokinese – dazu gehört z.B. auch die aus der Religionsgeschichte bekannte Levitation – sind nicht hundertprozentig objektiv aufzeichenbar. Zwar gibt es diese Phä­nomene, und auch keiner der damit befassten Wissenschaftler bezweifelt deren Existenz. Doch sind diese nur subjektiv zweifelsfrei erfahrbar. Das aus Versuchspersonen, wissenschaftlichen Beobachtern und präzisen Laborbedingungen zusammengesetzte System verhindert eine objektive Aufzeichnung. Wenn starre »objektive« Kontroll- und Aufzeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden, weigert sich das System, Paraphänomene zu produzieren. Wenn aber unwissentlich eine Aufzeichnung blockiert wird – weil z.B. ein Schalter versehentlich nicht gedrückt wurde – treten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Phänomene (z.B. Levitation) auf.3 In einer den PSI-Phänomenen gewidmeten Fernsehsendung erklärte der Freiburger Physiker und Parapsychologe Walter von Lucadou:4

“Diese paranormalen Phänomene haben die Eigenschaft, dass man sie nicht gezielt erzeugen kann. Man kann es sogar so ausdrücken: sie haben die Eigenschaft, dass immer dann, wenn sie etwas Bestimmtes hervorbringen sollen, dass sie dann gerade nicht funktionieren.”

Das Gelingen oder Misslingen von wissenschaftlich verwertbaren Aufzeichnungen von Para-Phänomenen hängt auch nicht von der psychischen Befindlichkeit der beteiligten Personen ab. Es genügt, dass man z.B. ein Telekinese-Ereignis wie den Spuk mit einer Kamera objektiv aufzeichnen kann, um die tatsächliche scharfe Aufzeichnung unmöglich zu machen.

“Hätte er [der Forscher] die Beobachtung ein bisschen eingeschränkt und nicht mit einer fokussierten Kamera draufgeschaut, sondern das ein bisschen lockerer gemacht, dann wäre es wirklich möglich gewesen, den Spuk vielleicht zu beobachten. [Interviewer: Also unscharf stellen?] Unscharf stellen.”

Man bekommt unwillkürlich den Eindruck, als sei hier eine Art Intelligenz oder Gesetz einer übergeordneten Ebene im Spiel, die eine absolute Objektivität nicht zulässt. Lediglich wenn »unscharf«, »locker«, quasi »absichtslos« gearbeitet wird, stellen sich wenigstens ein paar brauchbare Resultate ein. Diese nicht überschreitbare Teilmenge von erwünschten »objektiven« Resultaten nennen Parapsychologen »Pragmatische Information«. Meines Erachtens sind dies frappierende Parallelen zu Heisenbergs Feststellung einer prinzipiellen Unschärfe in der Mikrophysik.

Nicht nur für wissenschaftliche Erforscher von Paraphänomenen ist es frustrierend, ebendiese nicht ausreichend »objektiv« nachweisen zu können. Auch die parapsychischen Experten werden von Versuchen unter Laborbedingungen immer wieder enttäuscht. Ansonsten erfolgreiche Wünschelrutengänger, die sich als Testpersonen zu solchen Versuchen meldeten, versagten jämmerlich und kamen über eine durch zufälliges Raten erzielte Trefferquote nicht hinaus, lagen häufig sogar darunter. So geschehen z.B. bei einem der bisher größten Versuche dieser Art, der von einer Versuchsstation des amerikanischen Militärs 1970 veranstaltet wurde.5 Auch eine Versuchsreihe, die von der Wissenschaftsredaktion des Hessischen Rundfunks mit etlichen Wünschelrutengängern durchgeführt und anschließend im Fernsehen gezeigt wurde,6 verlief ähnlich fatal für die Getesteten. Nicht viel anders sieht es mit aufgezeichneten und von Psychologen analysierten Horoskop-Bespre­chun­gen erfahrener Astrologen aus. Sie scheinen voller Allgemeinplätze, Banalitäten und Irrtümer zu sein, öffnen Skeptikern überall Tor und Tür zur Kritik.7 Dementsprechend negativ bis lächerlich machend fallen dann auch die abschließenden Kommentare der Kommentatoren aus.

Allen negativen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen zum Trotz verlieren aber die parapsychischen Praktiken nicht an Popularität. Die Nachfrage nach astrologischen, kartomantischen (Tarot) und hellseherischen Lebensberatungen sowie radi­äs­the­tischen Ortsbegehungen und Untersuchungen (Wünschelrute, Pendel, Feng Shui) scheint eher sogar zu wachsen.

Unbeweisbarkeit von Ereignissen

Der Berliner Literaturwissenschaftler Wilhelm Gauger hat sich viel mit dem Phänomen des sinnvollen Zufalls auseinandergesetzt und gelangt am Ende eines Aufsatzes darüber zu einem »unscharfen« Fazit:8

“Ich habe im Vorangegangenen mit Näherungen, mit Einkreisungen, mit Indizienbeweisen gearbeitet, ohne Ihnen absolute Sicherheit oder Gesetzmäßigkeit anbieten zu können. Das werde ich auch nie tun können. Wir können gute Gründe für die Existenz von sinnvollen Zufällen anführen. Wir können sie von gewöhnlichen nicht unterscheiden und die Existenz nicht beweisen. Aber können wir denn beweisen, dass es den 30-jährigen Krieg gegeben hat? Wir haben nur Zeugnisse, Indizien und eine Forschung darüber.

Der sinnvolle Zufall ist etwas Wahres, aber nicht Beweisbares. Wenn wir das ernstnehmen, dann handeln wir im Sinne eines Als-Ob, als ob er beweisbar und unterscheidbar wäre. […] Wir sind auf Anekdoten und Berichte, auf guten Glauben an den Berichtenden und das eigene Erlebnis angewiesen. Der Übertritt in die Sphäre des All-Zusammenhangs wurde mit einem Opfer an Gewissheit erkauft. […] [Wir geraten in die Polarität] von Beweisbarkeit und Unschärfe. […] Wir können nur noch hinweisen, aber nicht begründen […] Das bedeutet aber andererseits, dass wir selbst bestimmen, was ein sinnvoller Zufall ist. Das aber bedeutet wiederum, dass wir uns in den Fluktuationsprozess selbst hineinbegeben und sehen, wohin er uns trägt. Es bedeutet also, dass wir auch für uns selbst die Sicherheit opfern. Und das bedeutet ebenfalls, dass wir selbst an der Realität als Fiktion mitwirken. Wir dichten die Realität, indem wir uns in die Gewissheitslücke selbst hineinwerfen.”

Fluktuieren und Inkonsequenz als Weisheit der Postmoderne

Moderne Esoteriker sind, was ihr Weltbild und oft auch ihre esoterischen Praktiken betrifft, eher inkonsequent, fluktuierend und eklektizistisch. Dies wird ihnen meist als Schwäche angelastet, und sehr rational eingestellte Menschen tun sich deshalb schwer im Umgang mit typischen Esoterikern.

Diese »Unschärfe« des Esoterikers ist aber nicht nur, wie ich am Beispiel von Physik und Parapsychologie aufzeigte, eine Eigenschaft, die im modernsten Trend des Denkens liegt, sondern auch eine gute Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben mit Menschen unterschiedlichster Couleur. Die Kritik am Eklektizismus des Esoterikers, dass er sich seine Religion oder Weltanschauung aus dem heutigen Ideenmarkt selbst “zusammenbastele” und damit eine Art billigen Abklatsch erhalte, ist Po­le­mik und entbehrt der intellektuellen Redlichkeit. Tatsächlich ist die Fähigkeit zum frei­en Prüfen und Auswählen die entscheidende individuelle Voraussetzung für einen wirklich eigenständigen Weg zur geistigen Reife – sowohl im Jungschen Sinne der »In­dividuation« als auch im Sinne des Paulusworts “Prüfet alles, das Gute behaltet.”

Das weltanschauliche Fluktuierenkönnen, das Nicht-Endgültig-Festgelegtsein ist angesichts unserer heutigen gesellschaftlichen Pluralität ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Der heute gefragte Typ des Weisen sollte nicht so sehr ein Meister eines Faches sein, sondern ein »Experte fürs Ungewisse«.

In diesem Sinne argumentiert der Philosoph Wolfgang Welsch, der hier das abschließende Wort haben soll:9

“Nicht nur die Handlungsform, sondern das ganze Existenzideal verändert sich postmodern. Umgang mit Pluralität, Andersheit und Dissens wird ausschlaggebend. Nicht ein bestimmter Satz rigider Prinzipien, sondern die Fähigkeit des Übergangs zwischen unterschiedlichen Bündeln von Grundsätzen ist jetzt verlangt. Der Blick über den Zaun, der gekonnte Wechsel, das Bedenken auch anderer Möglichkeiten gehören zu den Grundkompetenzen postmoderner Subjekte. Transversalität wird für diese entscheidend. Insgesamt zeichnet sich so eine leichtere, beweglichere Lebensart ab, die fähig ist, ohne letzten Boden zu operieren und hochgradig unterschiedliche Ansprüche zu verbinden. Das mag manchen nach bloßer Erleichterung oder Anpassung klingen – dies wäre jedoch eine arge Fehleinschätzung. Eine Existenzform, die mit Differenzen rechnet und Übergänge leistet, ist eher schwierig und anspruchsvoll. Sie ist heute, wo die plural gewordene Wirklichkeit den Übergang zwischen verschiedenen Sinnsystemen und Realitätskonstellationen allenthalben verlangt, aber auch geboten. Sie wird es künftig noch mehr sein.

Entsprechend verschiebt sich auch die Idee der Vernunft – von einem Vermögen der Prinzipien zu einem Vermögen der Übergänge zwischen unterschiedlichen Rationalitäten und deren Ansprüchen. Vernünftigkeit erweist sich jetzt am ehesten im klugen Abwägen und Austarieren unterschiedlicher Ansprüche, nicht in der Durchsetzung eines einzigen.

Seit Kant sah sich die Philosophie gedrängt, eine Vielfalt von Rationalitäten zu explizieren. Sie hat – oft schweren Herzens, aber durch zunehmende Einsichten dazu gedrängt – von der Idee eines letzten Fundaments Abstand genommen. Das hat seinen Grund nicht in Resignation, sondern in Erkenntnis und Anerkennung. Menschliches Leben vollzieht sich stets im Vorletzten und Pluralen. Das ist es, was die Philosophie, die ehedem eine Wissenschaft von den letzten Gründen sein wollte, zunehmend einsah und wozu sie die Menschen heute anhält und ermutigt.”

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In einem seiner letzten Briefe, kurz vor seinem Tode, schreibt der irische Schriftsteller und Theosoph William Butler Yeats am 22. Januar 1939: “Der Mensch kann die Wahrheit verkörpern, aber er kann sie nicht wissen.”


Bildquellen: Heisenbergsche Unschärferelation: Peter Kraushofer, St.Pölten; Heisenberg-Unschaerfe: Joachim Bublath, Geheimnisse unseres Universums, Droemer Verlag

  1. Siehe Hans-Peter Dürr (Hrsg.): “Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren”, 1986, Bern. Mit Aufsätzen vertreten sind in diesem Band: David Bohm, Niels Bohr, Max Born, Arthur Eddington, Albert Einstein, Werner Heisenberg, James Jeans, Pascual Jordan, Wolfgang Pauli, Max Planck, Erwin Schrödinger und Carl Friedrich von Weizsäcker. []
  2. Siehe Walter von Lucadou: “PSI-Phänomene. Neue Ergebnisse der Psychokinese-For­schung”, 1997, Frankfurt a.M. Dieses Werk ist für den Laien eine gute Einführung. []
  3. Siehe W.v.Lucadou: “PSI-Phänomene”, S.210-213 []
  4. Original-Ton Walter von Lucadou in der Fernsehsendung “Geister sind auch nur Menschen” arte /ZDF 2000. []
  5. Siehe Susan Blackmore & Adam Hart-Davis Testen Sie Ihre übernatürlichen Kräfte, 1998, S.107f. []
  6. Hessischer Rundfunk Fernsehen, Wissenschaftsredaktion unter der Leitung von Richard Brunnengräber, gesendet ca. im Jahre 2000. []
  7. Harald Wiesendanger Der Streit ums Horoskop, 1990, S.170ff. []
  8. Wilhelm Gauger: “Das Problem des sinnvollen Zufalls”, 1988 in: “Humane Zukunft” Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung, Bd. 10, S.281-298, hier S.291f. []
  9. Wolfgang Welsch: “Postmoderne – Pluralität als ethischer und politischer Wert”, S.39 in: “Aufklärung und Postmoderne” hg. v. Jörg Albertz, 1991, Berlin, Freie Akademie, Band 11, S.9-44 []
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