Der indische Weltkreislauf als Inspirationsquelle

Esoterik, Geschichte, Philosophie, Religion, Weltkultur.

Im Folgenden möchte ich einige Aspekte des traditionell-indischen Geschichtsdenkens erörtern, die meines Erachtens größere Beachtung auch seitens philosophisch und spirituell gesinnter Europäer verdienen. Bedingt durch indologische und spirituelle Studien in Indien habe ich mich jahrzehnte­lang immer wieder damit auseinandersetzen müssen. Es blieb jedoch nicht bei einer wissenschaftlich-distanzierten Betrachtung. Phasenweise handelte es sich für mich auch um ein inneres Ringen, das mich an weltanschauliche Grenzwerte heran­führte.

Teil 1: Theoretischer Hintergrund

Wie sieht der Geschichtsverlauf nach den klassisch-indischen Überlieferungen aus? Fragt man einen durchschnittlich oder auch weniger gebildeten Hindu danach, in welcher Geschichtsepoche wir uns heute befinden, so wird man höchst­wahrscheinlich die Antwort »Kaliyuga« erhalten. Darunter verstehen Hindus ein Weltzeitalter (Yuga), in dem die menschlichen Charaktereigenschaften und die Na­tur auf einem sehr niedrigen Niveau funktionieren. Im Kaliyuga überwiegt die Ver­blendung; das Böse und das Unglück sind allgegenwärtig und können nur mit großen Anstrengungen in erträglichen Schranken gehalten werden. Inder gebrauchen das Wort Kali-Yuga in ganz alltäglichen Gesprächen, um die schlechte Qualität der Welt oder das Böse, das von Menschen ausgeht, zu erläutern, etwa so, wie man bei uns sagt: “Wir leben halt in schlechten Zeiten!”

Der Begriff des üblen und unberechenbaren Kaliyuga impliziert unausgesprochen den Glauben an frühere Weltepochen, in denen es den Menschen besser oder gar para­diesisch erging. Tatsächlich kennt man in der indischen Tradition ein solches Goldenes Zeital­ter, Sat-Yuga, Satya-Yuga oder Krita-Yuga genannt, d.h. »Zeitalter der Wahrhaftigkeit, Wahrheit oder erstrangigen Qualität«. Ein einzelner Geschichtszyklus, ein Mahāyuga oder Kalpa,1 beginnt mit einem solchen Zeitalter, in dem die Menschen wie Götter auf Erden wan­deln. Das Leben ist in so ziemlich jeder Hinsicht das positive Gegenteil des heuti­gen. Die Menschen sind immer gesund, erfreuen sich eines extrem langen Lebens, ken­nen kein Unglück und keinen Tod – denn sie verlassen als Seelenwesen ihre körperliche Hülle leicht und freiwillig. Die Natur spendet von allen ihren Gaben reichlich. Menschen und Tiere leben im Einklang miteinander und mit der göttlichen Ordnung (Dharma). Ich gehe hier nicht weiter auf Einzelheiten ein, da diese unterschiedlich in verschiede­nen Purānas2 dargestellt werden.

Nach diesem erhabenen Götter-Zeitalter sinkt die Qualität des Lebens ganz allmählich und fast unmerklich. Über das Tretā-Yuga und das Dvā­para-Yuga – in abendländischen Begriffen: »Silber- und Kupfer- oder Bronze-Zeitalter« – vollzieht sich der Abstieg der Welt, bis sie schließlich in unser gegenwärtiges Kali-Yuga oder »Eisen-Zeitalter« gelangt. Nach äl­teren Quellen3 umfasst ein ganzer Kreislauf 12.000 Jahre.4 In ähnlichem Zusammen­hang erscheint die Zwölfzahl auch in den Veden sowie in buddhistischen und jainistischen Vorstellungen. Dort wird die zyklische Zeit mit einem zwölfspeichi­gen Rad verglichen.5 In den späteren Puranas werden diese Jahre dann als Götter­jahre definiert, die jeweils 360 Menschenjahren entsprechen.6 Ein Zyklus dauert danach 4.320.000 Menschenjahre.

Die längere Zeitrechnung hat sich im indischen Volksglauben durchgesetzt.7 Danach begann das finstere Kali-Yuga vor gut 5000 Jahren, als die Gottes-Inkarnation  Krishna auf die Erde herabkam. Diese Herabkunft (Avatār) Got­tes in Menschengestalt ist kein einmaliges Ereignis – wie etwa nach christlichem Glau­ben – sondern ereignet sich mehrere Male während eines Weltenzyklus, am popu­lärsten ist der Glaube an 10 solcher Inkarnationen.8 Die für den heutigen Hindu wichtigsten Ava­tare sind zweifellos Shri Rama und Shri Krishna, und deren Schrift­zeugnisse das Rāmāyana und die Bhagavadgītā und das Bhagavatam. Gott erscheint immer dann, wenn das Böse Überhand zu nehmen droht. In den Versen der Bhagavadgita IV, 7 und 8 offenbart Gott ge­nau dieses:

“Wann immer der Dharma [das Gute und Rechtschaffene] im Ver­fall begriffen ist, und der Adharma [das Schlechte] vorherrscht, dann, o Bhara­ta [Beiname Ar­junas], erschaffe Ich [Gott] Mich selbst neu. Um die Guten zu schüt­zen und die Schlechten zu vernichten, reinkarniere Ich von Zeitalter zu Zeit­alter.”

Diese Worte bilden ein Grunddogma des hinduistischen Glaubens, und jeder fromme Hindu ist überzeugt von der darin offenbarten Interventionsabsicht Gottes zur Wieder­aufrichtung der Welt.

Am Ende des Kali-Yuga, wenn Gottlosigkeit, Seelenfinsternis, Unwissenheit und Bos­haftigkeit zum Extrem angewachsen sind, erscheint Gott ein letztes Mal im Zeiten­lauf und bringt mit Kriegen und Naturkatastrophen eine völlige Vernichtung (pralaya) über die Menschenwelt, um sie von allem Übel zu reinigen. Danach be­ginnt wieder ein neue Goldenes Zeitalter. Diese Zyklen setzen sich unendlich fort. Nach einer großen Anzahl von Zyklen findet jeweils eine vollständige Auflösung (maha-pralaya) des gesamten Universums statt. Der Kosmos schmilzt gewisserma­ßen wieder in Gott bzw. zur Urmaterie zusammen, bis Gott wieder aufs Neue eine kos­mische Schöpfung aus der Urmaterie oder aus sich selbst heraus vollzieht.9Der letzte Avatar Kalki, der am Ende eines relativen Weltuntergangs erscheint, wird als wei­ßes Pferd oder auf einem solchen reitend dargestellt, eine interessante Parallele zur Johannes-Apokalypse Kap. 6, wo von den vier Reitern die Rede ist, die den Unter­gang einleiten – der erste ebenfalls auf einem weißen Pferd.

Es lohnt sich in unserem Zusammenhang nicht, den indischen Zahlenspekulationen zu folgen, die mit den Umläufen des Weltenrades und den übergeordneten Zyklen ver­bunden sind. Die Zahlen sind teilweise unvorstellbar groß, sie stellen sogar unsere westlich-astronomischen Spekulationen – »15 Milliarden Jahre nach dem Urknall« – bei weitem in den Schatten. Schon die kleinste Einheit der »Weltgeschichte«, ein Kali-Yuga, dauert 432.000 Jahre, ein voller Zyklus (Mahāyuga oder Kalpa) vom Be­ginn des Goldenen bis zum Ende des Eisernen Zeitalters das Zehnfache. Nach gängi­ger Schriften-Interpretation befinden wir uns gegenwärtig erst am aller­ersten Anfang des Kali-Yuga, es hat ja »erst« vor 5000 Jahren begonnen. Aus dieser Sicht besteht kein Grund zur Aufregung, der Weltuntergang wird ja erst in 427.000 Jahren kommen.

An diesem Punkt scheiden sich allerdings in Indien heute viele Geister. Einer­seits verleiht das traditionelle Denken in Äonen den Indern eine größere Gelassen­heit angesichts von Weltkrisen. Man glaubt hier weit weniger als im Westen an die Gefahr eines baldigen Weltuntergangs. Andererseits bleiben moderne Inder auch nicht unberührt von drohenden nationalen und globalen Katastrophen. Sie orientie­ren sich in dieser Hinsicht nicht an alten Schriften und können sich auf neue Ge­sell­schafts­per­spek­tiven einlassen. So gibt es in Indien immer wieder religiöse War­ner, die das Ende des Kali-Yuga und seinen baldigen Untergang herannahen sehen, bzw. positiv ausgedrückt: die für ein bald hereinbrechendes neues Dharma-Zeitalter (Goldene oder Rechtschaffene Ära) Stimmung machen. Selbst Gandhis Erfolg ist z.T. darauf zurück­zu­führen, dass er seine Landsleute für ein neues »Rama-Reich« – Syn­onym für Gerech­tigkeit und Wohlstand – nach den Briten begeistern und mobilisieren konnte, obwohl Ramas Reich dem längst vergangenen Treta-Yuga (Silber-Zeitalter) angehörte und nach orthodoxem Hindu-Denken diese Höhe direkt aus dem Kali-Yuga heraus de­finitiv nicht wieder erreichbar sein konnte. In schweren Krisenzeiten sind aber from­me Hindus bereit, an die Möglichkeit ei­nes baldigen göttlichen Zeitalters zu glau­ben. Man verlässt sich nicht starr auf die in den alten Schriften ausgeführten Zahlen­reihen, nötigenfalls kann man sie als reine Allegorien interpretieren. Auch Aurobin­do rechnete mit einem baldigen Anbruch der Neuen Göttlichen Zeit und des Neuen Menschen.

Erwähnenswert ist hier noch ein typischer Mentalitätsaspekt der Hindus. Wenn sie einem bald anbrechenden Goldenen Zeitalter Glauben schenken, dann können sie das, ohne von den nach den Schriften angesagten vorherigen apokalyptischen Szenarien erschreckt zu werden. Gläubige Hindus richten ihr Augenmerk im Wesentlichen auf die verheißene paradiesische irdische Zukunft und bagatellisieren notwendigerweise vorausgehende Katas­trophen. Im Unterschied zum christlichen Abendland lassen sich in Indien Weltuntergangsängste nicht schüren, auch nicht im säkularen weltpolitischen Kontext (nuklearer Holocaust, Umweltkollaps usw.). Inder scheinen diese Immunität aus einem tiefen Urvertrauen in den letztendlich positiven Lauf der Welt zu ziehen.

Teil 2:  Spirituelle Relevanz

Nach diesen theoretischen Darlegungen wollen wir uns die Frage stellen, welche spirituelle und ethi­sche Bedeutung die Beschäftigung mit dem indischen Konzept des Weltkreislaufs für uns Abendländer haben könnte. Wir wollen dabei nicht vergessen, dass alle angesprochenen Aspekte so »exotisch« gar nicht sind, sondern sich ebenfalls in unserer westlichen Geistesgeschichte wiederfinden. Kursorisch vermerken möchte ich nur: die absteigenden vier Zeitalter bei Hesiod und Daniel; den 10.000-jährigen Geschichtszyklus bei Platon; das zyklische Denken im Prediger Salomo; die ewige Wiederkehr des Gleichen bei den Stoikern und bei Nietzsche; die neutestamentliche Apokalypse und letztendliche Transformation von Mensch und Welt zu einem verklärten Neuen Jerusalem. Diese Hinweise reichen schon aus, um die hier erörterten Fragen zu einem ur-abendländischen Anliegen zu machen.

Im Westen hat heute die Vorstellung von der linearen Zeit das zyklische Denken völlig verdrängt. Dieser Prozess setzte mit dem Christentum ein, errang den Sieg mit Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft (ca. 17.Jh.) und erreichte gegen 1900 seinen Höhepunkt mit einem aus heutiger Sicht naivem Fortschrittsglauben. Erst ganz allmählich – wohl auch unter dem Eindruck der beiden Weltkriege – setzte während des 20. Jahrhunderts ein zaghaftes Umdenken ein. Dieses betrifft bisher aber nur den sozialethischen Fortschritt. Weitere Varianten des linearen Zeit-Denkens sind Evolutionstheorie und Urknall-Kosmogonie. Diese beiden haben heute den Status eines unangreifbaren Dogmas erlangt. Wer sie anzuzweifeln wagt, verstößt gewissermaßen gegen ein Denk-Tabu und gegen die guten intellektuellen Sitten.

Folgende sind die Hauptaussagen des hinduistischen Weltenrads, die wir einer Überprüfung im spirituellen Sinne unterziehen wollen:

  1. Die Weltgeschichte bewegt sich zyklisch.
  2. Die dominante und einzige »historische« Bewegung im Großen ist der Abstieg – in spiritueller und ethischer Hinsicht.
  3. Die Aufwärtsbewegung im Großen vollzieht sich in kürzester Zeit, ist ein totaler Transformationsprozess der Welt, die Heilsgeschichte schlechthin und deshalb »unhistorisch«.
  4. Wir befinden uns im dunkelsten Zeitalter.
  5. Möglicherweise befinden wir uns am Ende des dunklen Zeitalters und damit unmittelbar vor dem Untergang der alten Ordnung und dem großen Wiederaufstieg.
  6. Möglicherweise liegt die Dauer eines Zyklus im nachvollziehbaren Menschenmaß, d.h. im »mittleren« Bereich von ca. 5 bis 26 Jahrtausenden.10
  7. Möglicherweise wiederholt sich die Geschichte identisch Detail für Detail.

Thesen 1 bis 4 bilden den harten Kern im allgemein-hinduistischen Geschichtskonzept, an ihnen gibt es nichts zu deuteln. Thesen 5 bis 7 sind »Minderheitsvoten«. Sie bilden aber ein Wirklichkeitspotential, mit dem ehrlicherweise zu rechnen ist und das des­halb aus ernsthaften Überlegungen nicht ausgeklammert werden sollte.

Am Anfang unserer spirituellen Würdigung des hinduistischen Weltenrades sollen drei europäische esoterische Denker des 20. Jahrhunderts von hohem Gelehrtenrang ste­hen, die Gerhard Wehr immerhin zu den »spirituellen Meistern des Westens« zählt: René Guénon (1886-1951), Julius Evola (1898-1974) und Leopold Ziegler (1881-1958).11 Allen drei gemeinsam ist, dass sie sich intensiv mit den großen religiösen Tra­di­tionen der Welt, auch mit den esoterischen und stammeskulturellen und insbesondere mit dem Hinduismus auseinandergesetzt haben und zu einem Geschichtsverständnis gekommen sind, das dem des Weltenrades ähnelt. Dies ist umso erstaunlicher, als die drei nicht nur vorzügliche Büchergelehrte waren, sondern drei verschiedene Glaubenswege auch praktisch beschritten haben. Guénon war Sufi, Ziegler wäre vielleicht am ehesten als christlicher Mystiker und Evola als Weißer Magier oder Hermetiker zu bezeichnen. Sie gelten als »Traditionalisten«,12 denn sie waren durch ihre umfangreichen Studien zu der Überzeugung gekommen, dass der Menschheit eine Art Ur-Verfassung ewig gültiger göttlicher Gesetze und Erkenntnisse zugrunde liegt.

Von Anbeginn besitzen alle Völker etwas, für das Bezeichnungen stehen wie »Ur-Tradition«, »Ur-Weisheit«, »Ur-Überlieferung«, »Ur-Offenbarung«, philosophia perennis, sophia perennis oder religio perennis (perennis = ewig). Die Ur-Tradition oder Ur-Weisheit kann durch analytisches Studium der verschiedenen Geisteskulturen zwar ein Stück weit rückerschlossen werden, in Gänze eröffnet sie sich aber nur der reinen geistlichen Schau. Nicht notwendigerweise müssen in den alten Gesellschaften alle Mitglieder Schauende gewesen sein, vielleicht war diese Fähigkeit in ihrer Fülle nur den führenden Personen gegeben, etwa den Priesterkönigen. In jedem Fall waren aber diese Kulturen insgesamt auf die transzendente göttliche Weisheit ausgerichtet, und alle Gesellschaftsaktivitäten leiteten sich davon ab bzw. spiegelten diese wider. In kleinen Bruchstücken ist die Ur-Tradition bei »traditionalen« oder »überlieferungstreuen« Völkern noch vorhanden. Unsere moderne westliche Kultur ist hingegen am weitesten vom weisheitlichen Licht entfernt. Gemessen an jenem transzendenten Maßstab ist unsere Kultur die unwissendste, und sie ist dabei, den Rest der Menschheit mit in diesen Abgrund der völligen Finsternis zu reißen.

Die Traditionalisten schauen mit einer Mischung aus spirituellem Mitgefühl und elitärer Verachtung – letztere stärker ausgeprägt bei Evola – auf unsere Zeit. Sie sind Anti-Modernisten, Evolas Hauptwerk trägt auch den Titel »Revolte gegen die moderne Welt«.13 Ihrer Meinung nach erfolgte der Abstieg der Menschheit schrittweise seit der frühen Antike, nahmen im Abendland seit der Renaissance die dunklen Kräfte über­hand und erreichte mit dem heutigen Materialismus den tiefsten denkbaren Punkt. Aus dieser Sicht ist z.B. das sogenannte »finstere« Mittelalter näher dem Licht und damit erleuchteter als unsere Epoche. Es ist nur noch eine Frage relativ kurzer Zeit, wann der Zusammenbruch der heutigen Welt erfolgen muss und damit der Weg für einen rasanten Wiederaufstieg, eine Neugeburt der Menschheit erfolgen wird.

Offensichtlich wird auch mit einer »menschlichen« Zyklendauer gerechnet. Die Zeit des präsenten und die Menschen bestimmenden Urwissens wird einige Jahrtausende vor unserer bekannten Geschichte angesetzt, in der angeblich »mythischen« Ära, die vor der sogenannten »Achsenzeit« (um 600 v.Chr.) lag.

Welche relevanten geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen und spirituellen Botschaften verkündet uns das Weltenrad der Inder?

* Der schnelle Aufstieg: Der einzelne Mensch wird sich eines Tages seines gefallenen Zustandes eindringlich bewusst. Diese Einsicht erreicht ihn aus einer übergeordneten Seinssphäre, denn sonst hätte er gar keinen Vergleichspunkt. Je tiefer dieses Wissen ist, desto stärker bemüht er sich um seinen Wiederaufstieg zum Göttlichen und darf umso mehr auf die Gnade der göttlichen Hilfe vertrauen. Aufgrund des klaren und wachen Durchschauens seiner Ausgangssituation vollzieht sich der Wiederaufstieg in kürzester Zeit – relativ zur langen Verweildauer in der gefallenen Welt.

* Die vierfache Symbolik der Weltzeitalter und der rückläufige Durchgang: Die ab­strakte Grafik eines Weltenrades mit ihren vier Zeitaltern erinnert an ein Horoskopmandala mit seinen vier Quadranten. Letztere beziehen sich auf die drei Daseinsebenen Körper, Seele, Geist sowie auf die Transzendenz- oder Synthese-Ebene, die ich als »göttlichen Sinn« bezeichnen möchte. Nicht anders ist die Hauptcharakteristik der vier Welt-Epochen: Die Menschen der Goldenen Zeit leben in paradiesischer Unschuld, eingebettet in das harmonische Wirken des göttlichen Geistes. Jedes Ereignis, jede Handlung, jede Szene ist stimmig zum Ganzen und zur Glückseligkeit der Menschen. Im Silber-Zeitalter funktioniert diese Einheit nicht mehr von selbst. Der Intellekt muss korrigierend eingreifen durch das Errichten gewisser Satzungen, Riten und Ordnungen, die aber im Großen und Ganzen gewährleisten, dass die Gesellschaft ein irdisches Abbild des Göttlichen bleibt. Man könnte sich die dort herrschende Kraft als ein magisches Priesterkönigtum vorstellen, wir besitzen jedoch keine wirklich historischen Aufzeichnungen darüber. Es ist noch eine qualitativ andere Zeit vor unserer Zeit.  Der Sündenfall beginnt mit dem Sturz in das Zeitalter der Leidenschaften und Emotionen (indisch: rajas). Priestertum und Königtum spalten sich auf in zwei getrennte Institutionen, Kriege überziehen die Welt. Die heutige Zeit der Finsternis (indisch: tamas) ist durch Verhaftetsein im Körperlichen und Materiellen charakterisiert. Echtes Priestertum und Königtum verschwinden völlig von der Oberfläche.

Für den Wiederaufstieg des einzelnen, aus dieser Finsternis erwachenden Menschen ist damit auch ein Weg vorgezeichnet. Es geht gewissermaßen rückwärts durch die Zeit. Die Hauptbedeutung kommt dabei dem Intellekt, Geist oder Verstand (buddhi) zu, denn er war die treibende Kraft in den Abgrund. Dies ist eine der Bedeutungen, wenn vom »Baum der Erkenntnis« in der Genesis gesprochen wird. Der Intellekt ist aber nicht an sich das Übel, denn er stellte sich während des archaischen Priesterkönigtums in den Dienst des Göttlichen und bewirkte damit Gutes (sattva). Der Absturz erfolgte dadurch, dass er sich selbstbewusst in den Dienst der Leidenschaften und am Ende in den Dienst der Materie stellte. Der Rückweg kann auch nur unter der Führung des Intellekts gegangen werden. Wenn er sich wieder mit der göttlichen Inspiration verbindet, wandelt er sich von der Ratio zur Weisheit. Nur diese Art von Intellekt, dem das göttliche Licht leuchtet, ist fähig, die menschliche Licht-Monade durch die Materie- und Emotionsebene, bzw. die Eisen- und Kupfer-Zeit, hindurch in den ruhi­gen Hafen der Kontemplation zu geleiten und dort zu verankern. Dies ist die höchste, mit Methode und Bemühung erreichbare Stufe, die Silber-Zeit. Der Eintritt in die Gold-Stufe ist dann nicht mehr »machbar«. Er fällt der Seele zu. Die Silber-Seele mag an die Goldene Tür klopfen. Aufgetan wird ihr aber von innen.

Die Weisheit (Sophia) ist der vom Göttlichen angestrahlte Intellekt. Sie ist deshalb zur Führung autorisiert, weil sie zugleich dem Ganzen im Sinne des Göttlichen dient. Dienend führt sie. Sie ist damit das Gegenteil ihrer weit entfernten Verwandten, der heutigen Ratio, die sich alleinige Herrschaft anmaßt und dadurch den Menschen zu einem unerleuchteten Krüppel macht. Weisheit und Ratio sind aber dasselbe grundlegende Seelenvermögen. Sophia ist die vergoldete Ratio.

* Der alte Weltenbaum stirbt ab, nur sein winziger Same bleibt bestehen und entfaltet sich zum neuen Baum. Auf diesem Weg können wir nichts mitnehmen. Alles, was wir besitzen und an dem wir haften, fällt der Vernichtung anheim. Nur das winzige Saatkorn in uns, wir selbst als Licht-Monade, geht durch das Nadelöhr. Auf der anderen Seite entfalten wir uns dann wieder zum Baum – mit goldenen Früchten. Sich als Saatkorn oder Monade meditativ zu erfahren ist daher eine hilfreiche Übung, das Ziel der Vergoldung von innen heraus zu erreichen. Sekundär, d.h. der Erfahrungskontemplation nachgeordnet, ist auch eine gewisse asketische Disziplin, jedenfalls zeitweise, von Nutzen. Sofern sie nicht verkrampft angegangen wird, bringt auch sie uns dem Ziel näher, Glück von innen heraus zu empfinden – und von äußeren Dingen unabhängiger zu sein.

* Der Schauplatz des Weltenrades ist die Erde. Von anderen Menschenwelten ist im Zusammenhang mit den Zyklen nicht die Rede. Die Erde ist die wichtigste Welt im materiellen Kosmos und die ewige Heimat der verkörperten Menschenseelen. Heil von den Bewohnern anderer Sterne ist nicht zu erwarten, nur vom Göttlichen selbst. Falls es intelligente Bewohner anderer Galaxien überhaupt geben sollte, unterliegen sie denselben Gesetzen und Problemen wie wir hier auf der Erde. Mit Spekulationen über sie brauche ich mich daher nicht befassen. Ich kann mich umso mehr der ganzen Menschheit, ihrer Geschichte und Kultur sowie ihrer Tier- und Pflanzenwelt liebevoll zuwenden, mich mit ihnen verbunden fühlen und ihre Entwicklung fördern. Sie sind meine Familienmitglieder und Hausnachbarn. Auch wenn ich noch eine Wohnung in der transzendenten Heimat habe, sage ich Ja zum Hier.

* Möglicherweise wiederholt sich die Welt Detail für Detail. Da die ewige Wiederkehr meines jetzigen Lebens und meines ganzen Existenzen-Zyklus nicht auszuschließen ist, sei es nach 5000, 10.000 oder auch Milliarden von Jahren, sage ich ganz Ja zu mir und zum Jetzt. Was immer es an Schattenseiten in mir und meinem Leben gegeben hat und noch gibt, hat einen tieferen und positiven Sinn. Ich sage voll Ja zu meinem Leben.14

* Eine immer wiederkehrende Verwandlung der gefallenen Welt in ein  Goldenes Zeit­al­ter beweist die Schöpferkraft des göttlichen Geistes. Eine solche Transformation ist nur möglich, wenn der Weltgeist Herrscher über die Materie ist und sie immer wieder neu gestalten kann. Als Menschenseelen haben wir teil am Geist Gottes und sind daher im Prinzip ebenfalls Meister über die Materie.

Wollte ich aus all diesen Inspirationen eine Essenz extrahieren, so würde ich sie folgendermaßen umschreiben: Der Mensch verwandelt die Drei in die Vier. Drei sind die Daseinsebenen Körper, Seele und Geist bzw. die diesen entsprechenden drei Seelenvermögen Wille, Gefühl und Verstand. Wenn der Verstand sich mit Gottes Hilfe zur Weisheit wandelt, dann transformiert er den Willen zur strahlenden Kraft und das Gefühl zur Empfindung der Liebe. Auch die altbekannte Dreiheit des »Wahren, Schönen, Guten« bezieht sich auf dieselben Ebenen. Wenn diese drei verwirklicht sind, dann befinden wir uns in der Vier, im reinen sinnerfüllten Sein – hier im Leben.


Bildquelle Weltkreislauf: http://brahmakumaris.info

  1. Es gibt beide Bezeichnungen und Zuordnungen, je nach Schrift und Glaubensrichtung. []
  2. verehrte alte Schriften mit vielfältigen Ausführungen zur Mythologie []
  3. Manu I,69ff.; Mahābharata III,12,826; zitiert nach M.Eliade Ewige Bilder, S.80 []
  4. 4000, 3000, 2000, 1000 Jahre für die Yugas in absteigender Reihenfolge, plus jeweils zwei Über­gangs­pe­ri­o­den von je einem Zehntel der Dauer (2 x 400, 2 x 300, 2 x 200, 2 x 100 Jahre) []
  5. Atharvaveda X,8,4; Rigveda I,164,115; nach M.Eliade Ewige Bilder, S.83 []
  6. Es besteht hier offensichtlich ein Bezug zum -mathematisch- „idealen“ Sonnenjahr mit 30 x 12 = 360 Tagen. Ein Menschenjahr ist also nur ein Tag im Leben der Götter. Vergleichbar ist der Bibelspruch, dass für Gott tausend Jahre wie ein Tag seien (Psalm 90,4; 2.Petr. 3,8). []
  7. Ich meine damit ein allgemeines kosmologisches Denken in unermesslichen Zeiträumen. Die genauen Zahlen sind nur den schriftkundigen Gelehrten bekannt. []
  8. Je nach Schriftgrundlage oder Glaubensrichtung werden auch 8, 22 und 24 Male angegeben. []
  9. je nachdem, ob angenommen wird, Gott und Urmaterie seien von Anfang an separat existent (Dua­lismus) oder die Materie gehe aus Gott hervor (Monismus) []
  10. Als Minimum werden hier die von der indischen Brahma-Kumaris-Organisation vertretenen 5000 Jahre zugrunde gelegt, als Maximum das in astrologisch-esoterischen Kreisen populäre Platonische oder Weltenjahr, das in 12 gleich lange Zeitalter von 2150 Jahren unterteilt ist (u.a. Wassermann-Zeitalter). Letzteres beruht auf der Kreiselbewegung der Erdachse (Präzession des Frühlingspunktes). Die knapp 26.000 Jahre der eher im Westen bekannten astrologischen Zeitalter kennen allerdings keinen Aufstieg und Abstieg wie bei den indischen Yugas, doch auch der bekannte indische Yogi Sri Yukteswar, geistiger Vater der Yogananda-Bewegung, rechnet mit einem Gesamtzyklus von 24.000 Jahren. []
  11. Siehe G.Wehr: Spirituelle Meister des Westens, S.147-195. Außer den drei Genannten werden in diesem Buch als »westliche Meister« gewürdigt: H.P.Blavatsky, Rudolf Steiner, Krishnamurti, Alice Bailey, Gurdjieff, C.G.Jung, Karlfried Graf Dürckheim und Valentin Tomberg. []
  12. Auch die beiden Schweizer Gelehrten Frithjof Schuon (1907-1998) und Titus Burckhardt (1908-1984) sind dazuzurechnen. Guénon war offenbar der Vordenker oder Mentor dieses Kreises, denn alle anderen Genannten – so originär ihre eigenen Veröffentlichungen zweifellos sind – beziehen sich in der einen oder anderen Weise auf ihn. Schuon und Burckhardt haben gleich Guénon den Sufi-Weg beschritten. Schuon verbrachte davor längere Zeit bei Sioux-Indianern und wurde in ihre geheimen Traditionen initiiert. []
  13. Rivolta Contro Il Mondo Moderno, von letzter Hand verbesserte 3. Ausgabe, Rom 1969 (erstmals 1934), deutsch 1982 []
  14. Die Suche nach dem Weg zur totalen Lebensbejahung hat Nietzsche zur antiken Idee der iden­ti­schen Wiederholung zurückfinden lassen. Nach Nietzsche ist sie das einzige Weltbild, das eine volle Bejahung des eigenen Lebens fordert. Ein Haupt-Argument der Stoiker für die ewige identische Wiederkehr lautet sinngemäß: Wenn Gott, der Vollkommene, die Welt nach jeder Zerstörung immer wieder vollkommen erschafft, dann muss diese immer identisch sein, denn es gibt nur eine Vollkommenheit. []
Esoterik, Geschichte, Philosophie, Religion, Weltkultur.