Entgegen landläufiger Meinung sind Kleinstaaten und dezentrale Systeme häufig wirtschaftliche und kulturelle Erfolgsmodelle. Bereits Goethe kritisierte die negativen kulturellen Auswirkungen des Zentralismus in großen politischen Einheiten und Großstaaten.
In einer Zeit, in der Themen wie „Globalisierung“ und „Europäische Union – ja oder nein“ aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen vitale Anliegen sind und heftig diskutiert werden, sollte der kulturelle Aspekt der politischen Zentralisierung nicht aus den Augen verloren werden. Im Bildungswesen herrscht schon seit Jahren ein erheblicher Vereinheitlichungsdruck, aufgrund von PISA-Studien soll aufgeholt und elitärer gedacht werden, an den deutschen Universitäten werden Studiengänge „verschult“ und amerikanischen Vorbildern angepasst. Die von oben forcierten Standardisierungen, die z.T. für ganz Europa gelten sollen, sind aber nicht für alle Lebensbereiche förderlich. Sie bilden einen natürlichen Gegenpol zu Individualismus und Vielfalt, die besonders im kulturellen Sektor wünschenswert sind.
Das menschliche Maß
Um einem anonymisierenden Zentralismus entgegenzusteuern wird in alternativ denkenden Kreisen deshalb schon seit Jahrzehnten die Parole „Global denken – lokal handeln“ ausgegeben. Der deutsch-britische Ökonom und Philosoph E.F.Schumacher (1911-1977), der wichtige Beiträge zur Steuerung der Nachkriegsweltwirtschaft lieferte, plädierte für die Abkehr von der modernen Gigantomanie und für die „Rückkehr zum menschlichen Maß“. Seine Devise „Small is Beautiful“ fiel bei vielen NewAge-Denkern und Basisdemokratie-Bewegungen auf fruchtbaren Boden.
Segnungen der Kleinstaaterei
Die sogenannte deutsche „Kleinstaaterei“ früherer Jahrhunderte wird bis heute vielfach belächelt und für rückständig gehalten. In mancher Hinsicht mag dies berechtigt sein, gewiss aber nicht in kultureller Hinsicht. In der Zeit der vielen souveränen Fürstentümer und Stadtstaaten im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts erlebten Musik und Literatur ihre größte Blüte („Weimarer Klassik“, „Romantik“ u.a.). Kulturschaffende, denen die von der Obrigkeit gebotenen Lebens- und Arbeitsbedingungen in einem deutschen Staat nicht passten, brauchten oft nur kurze Strecken weiterzuziehen, um in einem anderen deutschen Staat mit offenen Armen empfangen zu werden. Luther, Bach, Mozart, Schiller und viele andere wären hier zu nennen. Luther hätte man in einem zentralistischen Deutschland schnell hingerichtet, Schiller wäre als Deserteur aus württembergischen Militärdiensten für lange Zeit im Gefängnis weggeschlossen worden. Dass Goethe schon in jungen Jahren sogar zum Minister ernannt und in dieser Position viel zum sozialen und kulturellen Wohl einer ganzen Landesbevölkerung bewirken konnte, verdankt er nur dem weitsichtigen Fürsten eines deutschen Kleinstaates. Vergleichbare, dem Gedeihen der Kunst und Wissenschaft förderliche Verhältnisse finden wir auch im Vielstaaten-Italien der Renaissance und der frühen Neuzeit.
Selbst rein wirtschaftlich zählen bis heute die allermeisten Klein- und Zwergstaaten zur Weltspitze – von wegen „rückständig“! In Europa sind die Schweiz und Luxemburg studierenswerte Klein-Flächenstaaten, von denen sich große Staaten manche Scheibe abschneiden könnten. Die Schweiz empfand es nicht einmal als nötig, der EU oder den Vereinten Nationen beizutreten – obwohl sie mit Genf schon lange einen der UN-Stammsitze stellt! Erst 2002 trat die Schweiz als letzter Staat der UNO bei. Noch bemerkenswerter ist, dass die kleine Schweiz aus vielen halb-unabhängigen „Zwergstaaten“, den Kantonen, zusammengesetzt ist. Schon seit Jahrzehnten gehört die Schweiz zu den Ländern mit dem höchsten pro-Kopf-Einkommen der Welt, oft als Nr.1.
Goethes Plädoyer für Dezentralisierung
Dass die Problematiken von Globalisierung, Vereinheitlichung, und Zentralisierung schon vor 200 Jahren gesehen wurden, zeigt ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe (Eckermann: Gespräche mit Goethe, Dritter Teil, 23. Oktober 1828). Goethe war ein vielsprachiger ausgesprochener Europäer; die Lektüre englischer, französischer, italienischer und sogar amerikanischer Bücher, Magazine und Zeitungen gehörte zu seinem täglichen Brot. In der unten zitierten Passage befasst er sich mit den Vereinigungsbestrebungen und dem De-Zentralismus im deutschen Kulturraum, doch leicht lassen sich Parallelen zum vereinigten Europa von heute erkennen. Die prinzipiellen Wirkungen scheinen gestern wie heute ähnlich zu sein.
„Mir ist nicht bange,“ sagte Goethe, „dass Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun. Vor allen aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind. Es sei eins, dass der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, dass mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, dass der städtische Reisepass eines weimarischen Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Pass eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überhaupt keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.
Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, dass das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und dass diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum.
Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Körper mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich wohl die Residenz eines Staates dem Herzen vergleichen, von welchem aus Leben und Wohlsein in die einzelnen fernen und nahen Glieder strömt. Sind aber die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströmende Leben schwach und immer schwächer empfunden werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Kulturzustand Frankreichs entworfen und die größere oder geringere Aufklärung der verschiedenen Departements mit helleren oder dunkleren Farben zur Anschauung gebracht. Da finden sich nun besonders in südlichen, weit von der Residenz entlegenen Provinzen, einzelne Departements, die in ganz schwarzer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrschenden großen Finsternis. Würde das aber wohl sein, wenn das schöne Frankreich statt des einen großen Mittelpunktes zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und Leben ausginge?
Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? – Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!
Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken, an Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürst hat dafür gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluss da, ja es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hätte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich!
Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebenzig hinausgeht und die doch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und das ist auch etwas!
Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten Provinzen ausgehen, und fragen Sie sich, ob das alles sein würde, wenn sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?
Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzstädte einverleibt werden sollten? – Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.“