Merkwürdige Zufälle

Grenzgebiete, Philosophie, Psychologie.

1923 veröffentlichte der Schriftsteller und Dramatiker Wilhelm von Scholz sein Buch “Der Zufall und das Schicksal”, das eine reichhaltige Sammlung merkwürdiger unwahrscheinlicher Ereignisse im Leben vieler Personen enthielt. Von Scholz hatte jahrzehntelang aus dem Bekanntenkreis, aus der Presse und aus der Literatur ihm glaubwürdig erscheinende und teilweise nachprüfbare Fälle zusammengetragen. Er kann mit seiner Sammlung als Pionier der psychologischen Zufallsforschung angesehen werden, auch wenn er keine wissenschaftlichen Hypothesen aufstellte.

Wilhelm von Scholz (1874-1969)

In einer späteren Auflage von 1959 kamen noch einmal neue “Zufälle” hinzu, die ihm Leser der ersten Auflage mitgeteilt hatten. Um gleich in medias res zu gehen, hier einige verblüffende Beispiele aus dieser Kollektion (zitiert aus der erweiterten Auflage von 1959):

[v.Scholz, S.156f.:] Einer Nummer der BZ am Mittag entnehme ich: Im Krankensaal eines Londoner Hospitals liegt nach einer schweren Operation ein Arbeiter Edvard Walters. Ein Patient wird in das Bett neben ihm gelegt. “Er hat denselben Namen wie Sie”, sagt die Schwester. Edvard, der ohne auf seine Umgebung zu achten, in einer Zeitung las, blickt auf, will seinen Augen nicht trauen – neben ihm liegt sein Bruder Charles, den er seit achtzehn Jahren totgeglaubt hat. Beide Brüder waren nach der Schlacht von Cambrai als vermisst gemeldet worden und hielten sich von da ab gegenseitig für tot.

[S.164:] Am 8. Juni 1934 stirbt in Brühl, Bezirk Köln am Rhein, der Ingenieur Eugen Broggle. Broggle war vor Jahren im Bigginger Bergwerk beschäftigt, verließ diesen Posten aber auf Drängen seiner Mutter wegen der gerade in Buggingen für den Grubeningenieur bestehenden Gefahr. Er starb an einer Blutvergiftung. Am 11. Juni 1934 zwischen 11 und 12 Uhr fand seine Totenfeier statt. Wohl jeder wird über den Zufall erschrecken, der nun hier waltete:
Zur gleichen Stunde nämlich war auch die Totenfeier von seinen früheren Bugginger Arbeitskameraden, die bei einem Bergwerksunglück umkamen. Und unter diesen Toten befand sich auch Broggles Nachfolger; also der Mann, der die Stelle innehatte, die Broggle wegen deren Gefährlichkeit auf den Wunsch seiner Mutter verlassen hatte.

[S.164f.:] 1918 traf den damaligen Hauptmann Summerford in Flandern ein Blitz, warf ihn vom Pferde und lähmte ihn für Jahre. Er ging in seine Heimat, das schon erwähnte Vancouver; dort traf den Genesenden wieder der Blitz, diesmal, ohne ihm Schaden zu tun. 1930 bei einem Spaziergang ereilte ihn dasselbe Schicksal nochmals; jetzt schwer, er wurde gelähmt, und die Lähmung führte wohl zu seinem 1932 erfolgten Tode. Aber damit nicht genug: noch auf sein Grabmal zuckt 1934 der Blitz nieder und zerstört es!

[S.11:] Als ein Mr. Jules Cordonnier in Avignon gestorben war und ein anderer Jules Cordonnier sich von dort auf eine afrikanische Reise begeben hatte, stellte die Post das Telegramm aus Afrika versehentlich der Witwe des anderen, des gestorbenen Cordonnier zu, und die arme Frau las mit Entsetzen: “Ganz gut angekommen. Aber höllische Hitze hier.”

[S.42:] Eine Zeitungsnotiz: »Gestern, Sonntag, wurde hier die Rentnerin Elise Möller, verwitwete Ernst, geborene Klug, beigesetzt. Ein eigenartiges Geschick wollte es, dass in derselben Nacht, in der Frau M. das Zeitliche segnete, auch ihre beiden auswärts wohnenden Schwestern in hohem Alter abgerufen wurden. Telegramme über das Ableben der Schwestern gingen hin und her, ohne ihre Zwecke zu erfüllen. Keine der Schwestern konnte mehr die Nachricht von dem Ableben der anderen lebend in Empfang nehmen.«

[S.156:] Ein junger Deutscher ist auf der Fahrt nach USA, um einen verschollenen Bruder zu suchen, dessen letzte Nachricht lautete: er wolle nach ‚Outwest‘ übersiedeln, was der Suchende für den Namen einer Stadt hält, während es den ganzen fernen Westen des Landes bezeichnet. Wie sollte er da den Bruder finden?! Er kommt auf dem Dampfer ins Gespräch mit einer Dame im Liegestuhl, die eben ihren Roman, mit einer Karte als Lesezeichen, zugeklappt hat. Der junge Mann erzählt der Ruhenden seinen abenteuerlichen Plan, sie macht ihn auf seinen Irrtum aufmerksam. Während er nun an der Möglichkeit, dass seine Absicht gelingen könnte, verzweifelt, fällt die Lesezeichenkarte aus dem Buch; er hebt sie auf und erkennt – die Geschäftskarte seines gesuchten Bruders, eines Uhrmachers, mit voller Adresse!

Vom Himalaya in die Alpen

[S.172f.:] Bei großen englischen Bergbesteigungen im Himalaja war der Schweizer Matthias Zurbriggen als Führer und Ausbilder tätig. Ein ganz wichtiges Gerät war sein Eispickel, das seine Initialen M.Z. trug. Der beste von Zurbriggens Schülern war der Gurkha Harkbir Thapa. »Im Sommer 1890 machte Zurbriggen, der inzwischen nach Europa zurückgekehrt war, mit einem anderen Bergsteiger Touren in der Montblanc-Gruppe. Auf einem Grat, der in jähen Abbrüchen ins Tal abstürzt, entglitt durch irgendeinen Zufall der Pickel Zurbriggens Händen, sauste viele hundert Meter über die Bergflanke und entschwand im Firnschnee oder in einer Spalte des zerrissenen Gletschers. …

Nach sieben oder acht Jahren machte einer der englischen Offiziere aus Indien mit Harkbir Thapa Besteigungen in den Schweizer Alpen, wie damals Zurbriggen im Montblanc-Gebiet. Bei einer dieser Eis- und Felskletterpartien gerieten die Touristen bei Nebel und einfallendem Schlechtwetter in die zerrissenen tiefer gelegenen Gletscherteile. Harkbir bewährte sich vorzüglich, fand immer wieder neue Auswege aus dem ihm und seinem Touristen völlig fremden Spaltengewirr.

Bei einsinkender Dämmerung standen die beiden vor einer sehr großen Spalte, über die keine Eisbrücke führte und die auch nicht umgehbar schien. Es blieb nichts übrig, als dass Harkbir in den Grund der Spalte hinuntersteigen musste, um sich an der gegenüberliegenden Eiswand wieder in die Höhe zu arbeiten. Kaum hatte er in der Tiefe der Kluft Stand gefunden, da stieß sein Fuß an einen Gegenstand – einen Eispickel, der fast völlig ins Eis eingebettet war. Er hackte das Instrument aus dem Eis heraus und hob es auf: Es war Zurbriggens Eispickel! Die eingebrannten Buchstaben M.Z. waren gut zu lesen, aber auch ohne sie hätte Harkbir die Axt, die er selbst so oft in Indien in Händen gehabt hatte, erkannt. Der Gurkha, der nur einen europäischen Führer und nur eine Eisaxt in Europa kannte, hatte den weiten Weg von Innerasien gemacht, um dieses Eisbeil, das nun schon fast ein Jahrzehnt im unsichtbaren Inneren eines Schweizer Gletscherstroms bergabwärts gewandert war, aufzufinden! In dieser großen Gletscherspalte, in welcher er den Weiterweg suchte, musste er genau an die Stelle treten, in der den Pickel im Eis spürte.

Der doppeltbelichtete Film

[S.37f.:] Ein gewisser Karl August Meißinger beschreibt in der Frankfurter Zeitung vom 24. April 1923 als eine Ergänzung zu von Scholzens Buch die Geschichte eines Filmes, den seine Frau im Schwarzwald vollfotografiert hatte, u.a. mit Aufnahmen ihres vierjährigen Jungen im Schnee. Der Film wurde 1914 in Straßburg zum Entwickeln abgegeben. Unmittelbar danach brach der erste Weltkrieg aus, die Meißingers mussten zurück nach Frankfurt reisen und konnten aus diversen Gründen den Film nicht mehr abholen. Auch der nummerierte Abholzettel war abhanden gekommen. Frau Meißinger trauerte sehr um den Verlust des Filmes mit den unwiederbringlichen Bildern ihres Sohnes.

K.A. Meißinger: “Im Sommer 1916 kaufte meine Frau in Frankfurt oder Königstein … einen Film und machte damit in Bad Soden Aufnahmen unseres inzwischen geborenen Töchterchens von damals anderthalb Jahren. Der Drogist, dem sie den Film zum Entwickeln gegeben hatte, sagte ihr bei der Abholung, der Film sei durchweg doppelt belichtet, und zwar müsse die erste Belichtung schon sehr alt sein. Während meine Frau noch erstaunt und ungläubig den Kopf schüttelt, denn Irrtümer dieser Art gibt es bei ihr nicht, bringt der Mann die Abzüge herbei, und es findet sich, dass es – der in Straßburg verlorene Film ist. – Sie erzählte mir das Abenteuer bei meinem nächsten Fronturlaub, und ich habe, die Bildchen in der Hand, noch einen kleinen Nachhall ihres damaligen Schocks erlebt. Wie im Traum sah ich die noch deutlich erkennbaren Gestalten meines Jungen und seiner Schwarzwaldfreunde im Schnee, und davor schwebten die hellen Schatten des kleinen Mädels im Sonnenbad, das nackte Körperchen mit dem leuchtenden Lockenkopf, beide Geschwister jäh zusammengerückt, wie sie nie zusammen gelebt hatten! Wirklich, man sah wie ein Träumender in etwas Schwindelerregendes hinein, wie in einen plötzlich aufgerissenen Abgrund, aus dem das urtiefe Grauen der Welt heraufdunstete. Welche Kombination und Ineinanderschiebung von ‚Zufällen‘, bis dieses kleine Ereignis beisammen war!”

Verhängnisvolle Schicksale

Carmen Thomas, eine Rundfunkjournalistin, die sich experimentell mit dem Zufall befasst hat, schildert in ihrem Buch »Vom Zauber des Zufalls« auch schreckenerregende Gesichter von Schicksalsverknüpfungen, z.B. die Geschichte eines Anstreichers, der bei ihr arbeitete:

“Als ich 25 Jahre verheiratet war, schenkte ich meiner Frau ein Auto zum Silber-Hochzeitstag. Sie war überglücklich und machte die erste Spritztour. Am Abend rief mich die Polizei an. Meine Frau sei tödlich verunglückt.
Ich verständigte meinen Sohn, der sich in Kiel bei der Bundeswehr befand. Er fuhr zu seiner Verlobten und deren Eltern, um sie zur Beerdigung abzuholen. Nach zwei Stunden rief mich die Polizei an. Mein Sohn sei mit der gesamten Familie tödlich verunglückt.
Mein Sohn hatte mit seiner Freundin ein Kind. Dazu muss ich noch erzählen: Ich hatte mit dem Autokauf vier Wochen vorher für meine Frau und für meinen Sohn hohe Lebensversicherungen abgeschlossen. Acht Wochen nach der Bestattung rief mich das Vormundschaftsgericht an und sagte, ich müsse jetzt die Vaterschaft meines Sohnes anerkennen, weil das Kind dann in Bezug auf die Lebensversicherungen erbberechtigt sei. … Aber in all meinem Kummer hatte ich in dem Moment gar keine Lust, diesem 6 Monate alten Baby, das ich zudem nicht mal richtig kannte, in diesem Alter, wo ja nur Fremde mit dem Geld was gemacht hätten, seinen Anteil auf ein Sperrkonto zu überweisen. Es war doch noch so winzig. In meiner Situation war ich nicht in Geber-Laune. Später bestimmt. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich am besten verfahre, ruft mich die Polizei an: Das Kind sei in seinen Kissen erstickt. Drei Monate danach habe ich selbst einen schweren Autounfall gehabt, nach dem ich sechs Monate im Krankenhaus gelegen habe. Wissen Sie: nach alldem kriegt man wirklich das Gefühl, da ist jemand hinter Ihnen her.” [Thomas S.251f.]

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Carmen Thomas fiel dabei eine Geschichte ein, die sie von einem holländischen Regisseur erfahren hatte. »Er hatte die Idee, Geschichten zu sammeln, die eine solche Verkettung von Grauen darstellen, dass die Leute in Notwehr nur noch schreiend lachen können. … Er hatte bei seinen Recherchen einen Mann entdeckt, der Lokführer war. … bei mindestens zehn seiner Fahrten hatten sich Selbstmörder vor seine Lok gelegt, waren Pkws und Busse auf ‚seinem‘ Gleis stehengeblieben, so dass er eine erhebliche Zahl von Leichen auf diese Weise ‚verursacht‘ hatte. Der Mann war darüber vollkommen verzweifelt und glaubte sich so stark mit einem Fluch belegt, dass er sich ins Stellwerk versetzen ließ. Er schwor, nie mehr in eine Lok zu steigen.
In einer Nacht fiel ein Lokführer aus. Der Mann wurde gebeten, ausnahmsweise noch mal einzuspringen. Es sei eine kreuzungsfreie Strecke, bei der nichts passieren könne. Und – was soll ich sagen – vor diesen Zug warf sich ein verzweifeltes Liebespärchen.« [S.252f.]

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»Der berühmte Rennfahrer Graf Berghe von Trips sollte 1961 mit einer Delegation der Landwirtschaftskammer Bonn in die USA reisen. Stattdessen fuhr er zum Rennen nach Monza, bei dem er tödlich verunglückte. Das Flugzeug, in dem er sonst gewesen wäre, wenn er mit nach Amerika geflogen wäre, stürzte zur gleichen Zeit ab. Alle Insassen kamen zu Tode. Irgendwie hatte er ein Doppelticket für sein schlimmes Schicksal.« [S.19]

Persönliche Erlebnisse

1993 stieg ich bei Kyoto in Japan auf einer mir fremden S-Bahn-Station um und musste mehrere Minuten auf den Anschlusszug warten. Ich setzte mich auf eine Bank und fand neben mir eine der vier englischsprachigen japanischen Zeitungen, die ich sonst nie las (ich las im allgemeinen die Japan Post). Dennoch nahm ich sie mit nach Hause nach Osaka und las ein wenig darin herum. Mein Blick fiel auf die Leserbriefspalte, die ich sonst kaum las, und unter einer der Zuschriften las ich den Namen Sven Holm. Irgendwie erinnerte ich mich dadurch an einen früheren schwedischen Freund mit gleichem Namen, der 18 Jahre vorher eine Japanerin kennengelernt hatte, nach Japan gereist war und nie wieder von sich hören gelassen hatte. Mehr aus Spielerei bat ich die Redaktion um die Adresse, schrieb dort hin und wurde von meinem alten Freund Sven schon am nächsten Tag angerufen, woraufhin wir uns zu einer großen Wiedersehensfeier trafen. Diese Fügung strotzt nur so vor Unwahrscheinlichkeiten. Ich benutzte nie die besagte Station, las nie die betreffende Zeitung und nur selten Leserbriefe in Zeitungen und noch seltener deren Einsendernamen. Noch nie in Japan hatte ich eine herumliegende Zeitung mit nach Hause genommen. Ausgerechnet in der Ausgabe dieses Tages erschien der Leserbrief meines Freundes – als hätte er ihn für mich und nicht für die anderen Leser geschrieben. Außerdem lagen sozusagen Welten und Zeitalter zwischen unserer letzten Begegnung in Deutschland und dem Wiedersehen in Japan.

Einer Freundin von mir geschah in Kyoto etwas ebenso Unwahrscheinliches. Sie stieß an einer Straßenecke “zufällig” auf einen alten Freund aus Berlin. Eine halbe Minute früher oder später – und die beiden hätten sich verfehlt. An einem Gebirgspass im Hindukush traf ich einmal völlig unerwartet eine Freundin aus Deutschland und im pakistanischen Punjab den Bruder eines Schulfreundes; wir saßen zufällig im selben Zugabteil.

Bei meinen Umfragen im Bekanntenkreis erhielt ich öfter Berichte von solchen unwahrscheinlichen Wiederbegegnungen an Orten weit entfernt von der Heimat. Sie sind der Nadel im Heuhaufen vergleichbar. Die Menschen, denen wir auf solch unwahrscheinliche Weise wiederbegegnen, sind oft nicht einmal von Wichtigkeit für das spätere Leben, d.h. der merkwürdige Zufall ist nicht unbedingt ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass wir mit dem betreffenden Menschen noch Außergewöhnliches zu tun haben sollten. Dennoch sind solche Ereignisse ein kleiner Schock, der uns daran erinnert, dass das Leben nicht nach mathematischen Wahrscheinlichkeiten abläuft. Sie können dazu dienen, uns aus einer Traumwelt der Berechenbarkeit und Zusammenhanglosigkeit wachzurütteln.

Grenzgebiete, Philosophie, Psychologie.