Europäische Leitkultur – worum geht es?

Gesellschaft, Philosophie, Religion, Zeitgeschehen.

In der Auseinandersetzung zwischen der westlichen und der islamischen Welt und auch in der Konfrontation der Westeuropäer mit ihren – historisch neuen – muslimischen Mitbürgern wird gelegentlich das zu verteidigende „christliche Abendland“ beschworen. Auf der anderen Seite mahnen fromme Muslime ebenso häufig an, dass der Westen von seiner Religion und seinen sittlichen Werten abgefallen sei. Vordergründig klingen die Argumente nachvollziehbar; jedoch beruhen sie auf der Prämisse eines falsch verstandenen europäischen Geistes. Auch wurde der Begriff einer „Leitkultur“ in die nationale Debatte eingebracht und oft bespöttelt. Man mag das Wort ungeeignet finden, es existiert aber tatsächlich so etwas, ein für eine Kultur gültiger Wertekatalog, bewusste oder unbewusste Weltanschauungen, die die Angehörigen dieser Kultur teilen.

Atheistische Philosophie und Christentum

Christliches Europa hier, islamischer Orient dort – diese Kategorisierung geht an der Realität vorbei. Die westliche Welt ist heute allenfalls zu 50% christlich, eher noch Amerika, in Europa dürfte dieser Wert noch darunter liegen. Auch in der Geschichte war Europa nie vollständig christlich, nicht einmal während des sehr christlichen Mittelalters. Wenn wir auf zweieinhalb Jahrtausende Europa zurückblicken, erleben wir ein Anschwellen und Abschwellen der maßgeblichen Geistesströmungen, ein Gegeneinander und Nebeneinander der beiden großen Mächte Philosophie und Religion.

Der größte Teil der Europäer orientiert sich heute an einem atheistischen Weltverständnis, ist viel mehr wissenschaftsgläubig als religionsgläubig. Doch es ist nicht so, dass eine ehemals allein herrschende christliche Religion nun ihre Kraft völlig eingebüßt hätte. Tatsächlich hatte sich der christliche Glaube seine Macht schon immer mit der Philosophie teilen müssen. Für lange Zeit wurden Philosophie und die Anfänge der naturwissenschaftlichen Forschung ausschließlich unter dem Dach der Kirche betrieben, und oft ließen sie sich nur notdürftig mit der christlichen Theologie vereinbaren. Der heidnische und nicht-religiöse Philosoph Aristoteles dominierte während des Mittelalters jahrhundertelang das theologische Denken Europas und prägte ganze Generationen von Theologen-Philosophen. Philosophie und Naturwissenschaft – die aus der Philosophie hervorgegangen ist – gehen heute von der Theologie und Religion getrennte Wege. Die Europäer haben also nach wie vor die Religion wie die Philosophie im Gepäck, daran hat sich im Prinzip nichts geändert. Christliches und atheistisch-freiheitliches Denken färbt sie gleichermaßen, und der Konflikt zwischen beiden ist Teil ihrer Identität.

Es kann also nicht die Rede davon sein, dass die Europäer von ihrem guten alten Glauben abgefallen seien, wie ihnen Muslime oft vorwerfen.

Zwei andere Strömungen, die den westlichen Geist seit über zwei Jahrtausenden mitgeformt haben, sind das Judentum und die Esoterik – allerdings in geringerem Maße und eher unter der Oberfläche oder im Geheimen. Diese sind ebenfalls Teile der europäischen Identität und keine Fremdkörper. Beide wurden zwar im Laufe der Geschichte immer wieder diskriminiert und verfolgt, haben sich jedoch als resistent erwiesen.

Individuum und Freiheit

Es ist kein Zufall, dass Europa Naturwissenschaft und Technologie hervorgebracht und ihnen zur weltweiten Anerkennung verholfen hat. Ansätze in dieser Richtung gab es auch bei den Indern, Chinesen und Arabern. Sie wurden aber nicht weiterentwickelt, weil sie keine längerfristige, gesamtgesellschaftliche Anerkennung und Förderung erhielten. Nur in Europa konnte sich auf lange Sicht der forschende philosophische Geist gegen die Widerstände von Religion und Tradition durchsetzen.

Eine wichtige Rolle spielte dabei die Entdeckung, Förderung und Wertschätzung des Individuums in Abgrenzung zum Kollektiv. Sie führten zum heutigen westlichen Individualismus mit seinen Freiheiten, aber auch seinen Problemen. Die Griechen philosophierten als erste über das Ich und das Individuum. Wichtige Folge-Stationen für die Herausbildung des Individualismus danach waren das frühe Christentum, die Reformation und die Französische Revolution – an diesen Eckpunkten musste man als Individuum existentielle Entscheidungen treffen – oft gegen ein feindlich gesinntes Kollektiv und oft unter Gefahr für Leib und Leben. Das Motto der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ ist bis heute richtungweisend für die westliche Welt. Die Philosophien der Aufklärung, der Demokratie und des Sozialismus waren die großen Mächte der Neuzeit, die dem kritisch-rationalen Denken und dem Individuum zum Sieg verhalfen.

Einer der letzten großen Meilensteine war die Psychoanalyse, deren Erkenntnisse seit über 100 Jahren das westliche Denken stark beeinflussen. Außerhalb des Westens ist sie nahezu unbekannt. C.G. Jung, einer der Begründer der Psychoanalyse, betrachtet die »Individuation« – das selbstbestimmte, ganzheitlich gereifte Individuum – als Sinn und Ziel der seelischen Entwicklung. Die Prägung des westlichen Menschen durch Psychologie und Psychoanalyse kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie fließt nicht nur in Alltag und Partnerschaft ein, sondern auch in die Rechtsprechung, politische Analyse, Medizin, Werbung, Medien und viele andere Gebiete.

Die Konfrontation des Einzelnen mit der Gemeinschaft öffnet die Türen zu Kreativität, Innovation und Selbständigkeit. Individualismus stärkt die Demokratie und fördert eine nachhaltige Art von Bildung, nämlich die Fähigkeit zu vielfältiger Informationsbeschaffung, Nachdenklichkeit, Kritik und Kommunikationsbereitschaft. Diese Werte sind feste Bestandteile der westlichen Kultur, der westlichen Seele.

Religion wird zwangsläufig zur Privatangelegenheit, einen anderen Weg kann es im Westen gar nicht geben. Dies muss aber kein Verblassen oder gar Verlöschen der Religion bedeuten; vielmehr vergrößern sich dadurch die Möglichkeiten, eine echte persönlich durchdrungene Spiritualität zu leben, die durchaus im Einklang mit der angestammten Religion sein kann – aber eben nicht muss. Muslime und Hindus, die meist starke Bindungen an ihre öffentlich präsenten und gelebten Religionen haben, bemängeln und bedauern in Europa oft, dass die Religion hier aus der Sichtbarkeit weitgehend verschwunden sei. Dies ist aus westlicher Sicht aber kein Mangel, sondern eine Stärke, ein Gewinn an Freiheit und Echtheit.

Die hohen Güter der Freiheit und Freizügigkeit verdankt Europa nicht nur der Philosophie, sondern im gleichen Maße der christlichen Religion. Schon Jesus kümmerte sich nicht um die jüdischen Gesetze; er lehrte auch seine Anhänger keine konkreten Disziplinen, Gebote oder Verbote. Paulus hob für die Christen endgültig alle Bindungen an die Regeln und Vorschriften des Judentums auf. Aus dem Neuen Testament lassen sich keine unbedingt einzuhaltenden Anweisungen oder Religionsriten ableiten. Genau wie Atheisten können Christen z.B. monogam, polygam oder zölibatär sein; sie können beten, wann, wo, wie, so oft oder so wenig sie wollen. Jesus machte seinen Anhängern keine Vorschriften in Bezug auf Kleidung, Haarschnitt, Körperpflege, Ernährung, Sexualität, Partnerschaft, Finanzen usw.. Seine Lehre war einzig auf den Kernsatz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zugespitzt und mehr auf das Jenseits als auf das Diesseits ausgerichtet.

Christen können ihrer heiligen Schrift also nur Inspirationen, jedoch keine konkreten Verhaltensregeln entnehmen; sie müssen ihre ethischen Maßstäbe also immer wieder neu entsprechend den Notwendigkeiten der Zeit und Gesellschaft definieren. Sie sind daher in der Bestimmung ethischer Leitlinien fähig, mit Atheisten und Agnostikern (glaubensmäßig nicht Festgelegten) zusammenzuarbeiten. Diese gemeinsame Lebensphilosophie, die sich aus christlicher Inspiration und rationaler Menschen- und Gesellschaftsanalyse ergibt, heißt Humanismus. Humanistische Ethik findet heute ihren Niederschlag in der UN-Charta der Menschenrechte und prägt maßgeblich die Verfassungen der westlichen demokratischen Staaten.

Die gegenwärtige Aufgabe: Voll-Integration unserer Muslime

Diese kurze Darstellung soll kein unkritisches Loblied auf das europäische Wertesystem sein, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme des in langen Zeitläufen Gewachsenen. Europäer sind nicht besser oder schlechter als Menschen anderer Kulturen, und die westliche Gesellschaft hat eigene spezifische Probleme. Sie will diese aber mit eigenen spezifischen Mitteln und mithilfe ihrer humanistischen Ethik in den Griff bekommen. Belehrungen von Menschen, die das europäische Werte-Fundament und den europäischen Geist nicht verstehen, sind daher ungeeignet und werden auch nicht ernstgenommen.

In Westeuropa lebende Menschen aus nicht-westlichen Kulturen tun sich oft schwer im Umgang mit europäischen Lebensmodellen und Gesellschaftskonventionen. Viele neigen deshalb zur Ablehnung oder gar Verachtung der Europäer und ihrer Sitten. Eine Anti-Haltung zur Gesellschaft, in der man lebt, hat aber keine Erfolgsaussichten. Eine immigrierte Volksgruppe oder Religionsgemeinschaft hat langfristig keine andere Option als das vorherrschende System und dessen Werte zu übernehmen. Das sagt der gesunde Menschenverstand und lehrt auch die westliche Geschichte. Das wichtigste Beispiel ist die Emanzipation und Integration der Juden, die allerdings ein schmerzlicher und von Rückschlägen gekennzeichneter Prozess war.

Nun steht die westeuropäische Stammbevölkerung vor der unumgänglichen Herausforderung, ihre größte Fremd-Minderheit zu integrieren – die muslimischen Immigranten und deren Nachkommen. Gewiss kann man davon ausgehen, dass sich das Problem im Laufe der Jahrzehnte und Generationen von selbst regeln wird. Doch kann verstärkte Bildungs- und Sozialarbeit innerhalb der muslimischen Bevölkerungsgruppe diesen Prozess beschleunigen und schmerzloser gestalten. Aus den geschichtlichen Erfahrungen mit der jüdischen Minderheit sollten die Europäer genug gelernt haben, um Fehlentwicklungen bei dieser neuen Aufgabe schon von Anfang an zu vermeiden. Hier sind vor allem gebildete, wohlhabende und verwestlichte Muslime gefordert, diese Arbeit mit Tat und Geld voranzutreiben. Eine winzige Restminderheit von anpassungsfeindlichen und unbelehrbaren Muslimen wird die Gesellschaft verkraften müssen und können, so wie sie auch winzige Minderheiten von fundamentalistischen Christen, Neo-Nazis u.a. verkraftet.

Es ist vorhersehbar, dass die westeuropäischen Staaten die Einwanderung von Muslimen und eventuell weiterer Volksgruppen immer mehr erschweren und schließlich nur noch extrem kontrolliert-qualifiziert erlauben werden, falls der Zustrom nicht auf andere Weise versiegt. Die Geschichte zeigt, dass kein Volk eine schnelle und unverhältnismäßige Überfremdung duldet, wenn es sich dagegen wehren kann. Für die in Westeuropa bereits lebenden und arbeitenden Muslime, wäre eine stark angezogene Einwanderungsbremse jedoch ein Vorteil, denn ihre Integration könnte ungestörter verlaufen. Die europäische Stammbevölkerung wird sich leichter mit ihnen arrangieren, wenn sie kein unendliches Wachstum der „Fremden“ befürchten muss. Der geistig-kulturelle Befruchtungsprozess würde dann auch leichter in umgekehrter Richtung verlaufen, und zwar auf höherem Niveau als jetzt. Die in der Stammbevölkerung stärker aufgehende muslimische Minderheit könnte ihre besten Seiten zum europäischen Geist und zur europäischen Kultur beisteuern. Wir alle und auch unsere „Leitkultur“ würden dann ein paar Prozent „muslimischer“ werden.

Gesellschaft, Philosophie, Religion, Zeitgeschehen.